Donnerstag, 16. Juni 2011

Das Leben ist kein Puppenhaus


   Jeder kennt es, wenn Vier- bis Fünfjährige vor dem Puppenhaus sitzen oder liegen
   und ihre Lieblinge Trepp auf, Trepp ab jagen, Türen öffnen lassen oder vor dem
   kleinen Wohnzimmerfernseher das Surfprogramm gucken lassen. Es wird gekocht,
   gebadet, geschlafen und geschimpft. Nach dem Schimpfen setzt sich der Puppen-
   haus-Vater gern mal ins Auto und rasst ins Büro.
   Aber ist Euch schon mal aufgefallen, dass in der Puppenhauswelt keiner den Bus oder
   die Bahn nimmt, wenn er Ärger abbauen muss - und auch generell nicht. Höchstens
   mal die Oma & den Opa vom Flughafen  abholen ... aber nie mit und von dem ÖPNV.
   Und warum? Weil da das reale, bittere Leben stattfindet.

   Dabei war mir heute so stark zumute, eingreifen zu wollen, den armen Vladi in die
   Hand zu nehmen, um bei seiner Freundin Meli Gnade zu erwirken. Eben wie eine
   Puppenhausfigur:
   Vladi saß mir heute im Zug gegenüber. Dackelblick und echt harte Entschuldigung:
   "Isch hatte meine Hand geklemmt, da konnte ich Deine nicht nehmen. Bittte, bitte ver-
   zeih mir - ich will Dich behalten. Das mit uns ist doch was!", so Vladi mit schmachten-
   den Blick in Melis durch durchgestufte Pudeldauerwellen umlocktes Puppen-
   gesicht und auf Ihre üppig zur Schau gestellte Oberweite. ,Mein Gott Meli, jetzt gib
   Dir mal einen Ruck! Das kann man ja nicht mehr mit ansehen - diese Dackelaugen,
   der versuchte und abgewehrte Kuss ...' Man konnte es mir sicher ansehen, was ich
   dachte - aber mich beobachtete keiner ... das Paar hingegen war 1A präsentiert
   und unterhilt das ganze Großraumabteil. Die Mp3-Player dischten monoton
   nebenher, die Mobilfunk-Gespräche wie "Ich bring den Salat mit, kannst Du noch
   beim Bäcker vorbei?" waren bereits eingestellt.
   Doch Meli, die meines Erachtens ihr süßes Gesicht viel zu alt geschminkt hatte,
   klappte erbarmungslos Desinteresse signalisierend ihren Seminar-Ordner auf und zu.
   Nein, sie wollte einfach nicht verstehen, dass Vladi sie nicht an der Hand hielt,
   während er sich mit seinen Kumpels unterhielt. Das war definitiv keine Puppen-
   hausstimmung, wobei viele sicher mitfühlten, innerlich Partei ergriffen und schon
   eine passende Ausrede parat hielten.

   Wenn nicht gerade zum Essen gerufen wird, Fernsehen angepriesen wird, oder der
   Regen endlich vorüber ist und man draußen spielen kann, werden die Konflikte von
   Familie Sonnenschein bei uns zuhause im Puppenhaus immer fertig ausgetragen.
   Danach ist Friede-Freude-Eierkuchen. Doch wie es bei Vladi weiterging, ob er die
   Nuss Meli geknackt hatte und ob sie heute Abend gemeinsam Salat essen oder
   Mp3s hören weiß ich nicht - wie viele andere, die bereits bei der frühabendlichen
   Reality-Show der DB-AG nicht bis zum Ende kamen. Unser Fahrziel war erreicht ...
   doch unser Harmonie-Ziel oder die tägliche Lust auf eine dicke Protion Voyeurismus
   war noch längst nicht befriedigt. Mal sehen, was morgen geboten wird ... 7.31 Uhr
   - nein nicht im Morgenmagazin ...Vielleicht sehen wir uns? Was meinst DU?

        Silke

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